EVA-MARIA SCHÖN

Das HANDVOKABULAR von Eva-Maria Schön resultiert aus einer Ökonomie künstlerischen Gestaltens. Wir sehen die sensomotorische Spur ihrer Hand, die auf der glatten Oberfläche eines Kartons verdünnte dunkle Farbe aufgetragen hat. Nicht spontan gestisch, sondern einer Bewegungspartitur gehorchend, die die Künstlerin festgelegt hat:
`Der ganze Zeigefinger dreht sich halb um seinen Ballen, dann setzt die Zeigefingerspitze auf, und der Handballen dreht sich um die Spitze, dann dreht sich auch der Zeigefinger wieder um den Ballen.´ Richtung, Kraft, Geschwindigkeit und Zeit sind die Parameter dieses Vorgangs. Sichtbar wird das bildliche Echo, eine seismografische Aufzeichnung, in der sich der wechselnde Druck der Hand auf die Farbe,ein spontanes Verharren und rasches Wischen, jene stockend-fließende Rhythmik der Bewegung, die körpereigene Vibration und die individuelle Beschaffenheit des organischen Werkzeugs, der Hand, unmittelbar manifestiert. Das Geschehen tritt durch die Form in Erscheinung. Die Form gewinnt durch den Wechsel von dichten dunklen und grautonig transparenten Farbzonen eine biomorphe Körperhaftigkeit, die aus der Handlungsaufzeichnung erwächst.

Kontrolle- Es ist naturwissentschaftliche Neugier, die das künstlerische Konzept von Eva-Maria Schön grundiert. Sie wiederholt in einer experimentellen Reihung die sekundenschnellen Bewegungsabläufe, fasziniert von der stets ungleichen Ähnlichkeit der geschaffenen, organisch anmutenden Strukturen. Sie ist auf der Suche nach einer Gesetzmäßigkeit von kreativem Akt und kreatürlichem Ausdruck. Die Lust der Entdeckung vereint sich dabei mit einem Gewinn an Freiheit durch die Wiederholbarkeit der Handlung. Sie kann jederzeit auf gleiche Weise mit jeweils neuen Ergebnissen vollführt werden. Die Künstlerin begreift Wiederholung als konstitutiven Teil des Lebens, in dem Formen wie Vorgänge einander entsprechen: So wie sich Grashalme in dem Maße gleichen wie ein Lidaufschlag dem nächsten- und doch nie identisch sind. Die Formenpaare weisen, bei aller ausgeübter Kontrolle im Entstehungsprozess, genau jene Komplexität der minimalen Variation auf, die der Natur innewohnt.
Parallelität- Die Tuscheabdrücke des HANDVOKABULARS erinnern in ihrer präzisen Erfassung der Details an mikroskopische Aufnahmen, Röntgenbilder oder Fotogramme. Gegenstandslos und doch konkret in der Assoziation vermeint man die Struktur von Haaren, eine fossile Seelilie, das Blatt eines Ginkobaumes oder etwa das Sprosstück des Winter-Schachtelhalms zu erkennen, wie ihn Karl Blossfeldt für seine ´Urformen der Kunst´ abgelichtet hat. Mit der Systematik eines Lehrbuches der Botanik werden die Gestaltungen paarweise geordnet. Erst in der direkten Gegenüberstellung gewinnen die Formen ihre Identität, im Vergleich werden sie jeweils als Unikat erkennbar. Diese Varietät und die morphologischen Parallelen zu Naturformen reflektieren unmittelbar die Bedeutung des Schaffensprozesses an sich: Rationale Handlungen unterliegen der Eigendynamik alles Organischen, so auch des Künstlers Hand.

Ralf Burmeister
,Nach der Natur, Berlinische Galerie, 2002